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Kurator Jasper v. Richthofen
Jasper v. Richthofen: Es ging uns weniger um spektakuläre Überraschungen. Die haben wir bei diesem Thema ohnehin nicht wirklich erwartet. Ziel war es, die Zeit des Dritten Reichs und die zeitgeschichtlichen Ereignisse auf eine regionale Ebene zu projizieren: Was spielte sich in Görlitz ab? Und siehe da, auch in Görlitz hat die NSDAP zur Reichstagswahl im November die meisten Stimmen erhalten. Auch in Görlitz wurden Vereine und Gesellschaften gleichgeschaltet und „arisiert“ und die Mitglieder jüdischer Abstammung entfernt. Auch in Görlitz gab es Opfer der NS-Krankenmorde, durch die tausende Menschen umgebracht wurden. Auch Görlitzer, vor allem mit jüdischem Hintergrund, saßen in Konzentrationslagern und wurden dort ermordet. Auch in Görlitz gab es eine bedeutende Rüstungsindustrie, wurden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt. Auch mitten in Görlitz wurde durch die SS unter den Augen der Bürger ein KZ betrieben. Ja, und auch Görlitzer sind tragisch als Soldaten an der Front ums Leben gekommen. Und auch die Görlitzerinnen und Görlitzer waren in einem erheblichen Ausmaß den Gräueln der „Befreiung“ und Besetzung der Stadt durch die Rote Armee ausgesetzt. Und schließlich: Auch in Görlitz wurden NSDAP-Mitglieder „entnazifiziert“, ohne die verbrecherische Ideologie aber in den Köpfen der Görlitzerinnen und Görlitzer zu beseitigen. All das wollen wir in unserer Ausstellung erzählen.
Jasper v. Richthofen: Über die Zuweisung „mutig“ muss ich lächeln. Denn wir sind mit dem Thema viel zu spät dran. Das Kriegsende ist inzwischen 80 Jahre her. Wir legen zwar den Schwerpunkt der Ausstellung auf Biographien von Görlitzern, aber die Masse unserer Zeugen lebt schon einige Zeit nicht mehr, so dass deren Kinder und Enkel deren Geschichten erzählen. Die wenigen Zeitzeugen, die wir kennen, waren damals noch Kinder. Auch der NS-Zeit in Görlitz ist inzwischen fast nur noch in Geschichtsbüchern und Archiven nachzuspüren. Wenn wir aber Geschichte lebendig vermitteln wollen, und das ist unser Kerngeschäft als Museum und Bildungseinrichtung, brauchen wir idealerweise biographische Bezüge, die wir erzählen können. Und wer könnte in Görlitz oder anderswo etwas dagegen haben, wenn wir als Museum NS-Geschichte in Görlitz lebendig erzählen und zwar so, wie sie war: Für die Stadt und ihre Bewohner eine Katastrophe.
Kurator Sven Brajer
Sven Brajer: Die Resonanz der Stadtbewohner war gut. Für mich war es eine spannende Erfahrung, die Wohnungen wildfremder Leute betreten zu dürfen. Hier spielt sicher auch das Museum als Vertrauensinstanz eine große Rolle. Ich wusste meist vorab nicht mehr, als dass es um die Eltern, Tanten, Onkel oder die Großeltern dieser Menschen oder ihre eigenen Erinnerungen ging. Meistens handelte es sich um tragische Geschichten. Gerade im letzten Kriegsjahr kamen noch viele junge Familienväter an der näherkommenden Front ums Leben. Ihren Kindern, die damals nur fünf oder sechs Jahre alt waren, blieben lediglich vage Erinnerungen, einige Fotos und das eine oder andere Andenken, wie ein Spielzeug oder ein Tagebuch. Das war schon sehr bewegend. Mein Eindruck war, dass manche von ihnen, oft weit über 80 Jahre alt, noch reinen Tisch mit ihrer eigenen Familiengeschichte machen wollten. Denn nicht nur Angehörige von Opfern, auch einige von Tätern und Mitläufern meldeten sich. Alle treibt bis heute die Frage nach dem „Warum?“ um. Von den über 20 geführten Interviews haben es sechs bislang völlig unbeleuchtete Schicksale als eigene Biographiestationen in die Ausstellung geschafft – genauso wie zahlreiche Exponate.
Jasper v. Richthofen: Nein, auf keinen Fall. Viele der Geschichten können wir in der Schau nur anreißen. Gerne hätten wir uns intensiver zum Beispiel mit Justizgeschichte, Krankenhausgeschichte, Kirchengeschichte, Industriegeschichte, der Geschichte von Zgorzelice/Zgorzelec, der Geschichte der Zweiten Polnischen Armee und auch der KZ-Geschichte befasst.
Sven Brajer: Immer mehr Quellen kamen durch die Interviews zum Vorschein. Dagegen war die Aktenlage in den Archiven, zum Beispiel beim Thema Justiz, überschaubar. Die Görlitzer NS-Verwaltung hatte ganz offensichtlich noch kurz vor Kriegsende zahlreiches belastendes Material verschwinden lassen. Hier lohnt es sich, weiter zu forschen. Auch bestätigte sich meine Vermutung, dass der Austausch mit Historikern und Museumsmitarbeitern der Umgebung östlich der Neiße noch die eine oder andere Forschungslücke füllen kann.
Jasper v. Richthofen: Für mich persönlich überraschend war die Erkenntnis, in welcher Geschwindigkeit die NSDAP nach ihrer Wahl im November 1932, ab der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, den Staat umbauen konnte. Bis 1934 waren die wesentlichen Umstrukturierungen vollzogen, die Vereine arisiert und gleichgeschaltet, politische Widersacher eingesperrt und die Meinungsfreiheit und der Rechtsstaat abgeschafft. Daraus haben Mütter und Väter des bundesdeutschen Grundgesetzes Lehren gezogen. Überraschend auch, dass sofort und ohne Widerstand mit der Militarisierung der Gesellschaft begonnen wurde. Dabei waren der Erste Weltkrieg und dessen beispiellose Schrecken erst 15 Jahre her. Spätestens 1945 muss auch der letzten Görlitzerin und dem letzten Görlitzer klar gewesen sein, dass der von Deutschland entfesselte Krieg mit Wucht auf den eigenen Boden, in die eigene Stadt zurückkehren würde. Die Teilung der Stadt in einen deutschen und einen polnischen Teil ist heute davon beredtes Zeugnis.
Sven Brajer: Die NSDAP schaffte es auch in Görlitz, die Wähler am besten anzusprechen. Adolf Hitler tat das im wahrsten Sinne des Wortes im April 1932 vor 50.000 Menschen in der Neißestadt. Meines Erachtens war 1932/1933 für die wenigsten Görlitzer klar, wo die verhängnisvolle Reise mit der NSDAP 1945 enden würde, zumal es ja zunächst Dank teurer Wohlstands- und Aufrüstungsprogramme und Investitionen in die Infrastruktur durchaus für viele bergauf ging. Hiervon profitierte auch die Görlitzer WUMAG wie auch viele andere angeschlagene Fabriken. 1939 kam dann mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs der große Bruch. Spätestens hier konnte keiner mehr die Augen vor den Verbrechen des NS-Regimes verschließen. Was die Görlitzer bewegte, geht sehr eindrucksvoll aus Dokumenten hervor.
Jasper v. Richthofen: Für mich sind es zwei Exponate, die mich zu Tränen gerührt haben. Das eine ist das anteilnahmslose Telegramm an eine Görlitzer Mutter aus der Kränzelstraße. Es enthält die Nachricht, dass ihr Sohn im KZ Mauthausen in Oberösterreich ums Leben gekommen, also ermordet worden ist – unterschrieben durch den Lagerkommandanten der SS. Das andere Objekt ist der Abschiedsbrief des 23jährigen Görlitzer Wehrmachtssoldaten Hermann Langer an seine Mutter. Er schreibt, dass er, wenn sie dies liest, bereits tot sei. Langer wird 14 Tage nach Abfassung des herzergreifenden Briefs in der ehemaligen Sowjetunion südlich des Ladogasees von einer Granate tödlich getroffen.
Sven Brajer: Eine meiner Recherchen führte mich zur Gedenkstätte Großschweidnitz. Dort wurden auch Görlitzer und Görlitzerinnen Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde. Viele Akten dazu finden sich im Hauptstaatsarchiv Dresden. Das sind alles unglaublich tragische Geschichten von Menschen, die es seit Geburt oder ihrer Kindheit ohnehin schwer hatten und denen im Nationalsozialismus nicht nur sämtliche Chancen, sondern auch ihr Leben genommen wurde. Drei dieser in Vergessenheit geratenen Schicksale zeigen wir in der Ausstellung.
Jasper v. Richthofen: In erster Linie und ganz materiell wird von unserem Projekt das Lesebuch bleiben. Darin wird erstmals zumindest schlaglichtartig die Geschichte der Stadt Görlitz in der NS-Zeit erzählt. Vielleicht können wir mit unserer Arbeit auch Andere, zum Beispiel Jugendliche und Schülergruppen, motivieren, die Geschichten ihrer eigenen Familien oder des eigenen Stadtteils oder Sportvereins zu ergründen. Der Schülerwettbewerb, den wir für die Laufzeit der Ausstellung ausgerufen haben, soll hierfür Anregungen sein. Außerdem erhoffe ich mir persönlich, dass die zu beobachtende Verharmlosung der NS-Diktatur, der vielleicht unbedachte, inzwischen wieder salonfähige Gebrauch von NS-Sprache oder NS-Zeichen durch die Gewinnung neuer Einsichten eingedämmt oder zumindest überdacht wird. Ich wünsche mir, dass weniger Unwissen über die erschütternden Begleitumstände einer solchen menschenverachtenden Diktatur besteht. Dass jeder Besucherin und jedem Besucher klar wird, dass die „Gnade der späten Geburt“ wirklich eine Gnade ist und der NS-Staat keiner war, in dem Menschen frei und gut leben konnten. Die Demokratie, in der wir heute leben dürfen, ist zwar für die Deutschen beinahe vom Himmel gefallen und nahezu selbstverständlich, aber dennoch teuer bezahlt worden und allemal wert, dafür jetzt und in Zukunft zu kämpfen.
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Das Interview führte Ina Rueth